Warum nicht auch wir in Deutschland?

Ein anonymer Meinungsbeitrag.

Die Welt ist in diesen Tagen im Ausnahmezustand, und dieser macht auch – nein, insbesondere – vor den besten Kliniken der Welt nicht halt. Krankenhäuser sind im Ausnahmezustand, Notfallpläne, Home-Office, Masken-Sterilisation, COVID-19-Patient*innen auf Intensivstation. Das gilt auch für Boston, Massachusetts.

Was mich in diesen Tagen überrascht, ist, wie offensiv die Krankenhäuser hier an der Ostküste die mentale Gesundheit ihrer Mitarbeiter*innen zu schützen versuchen. Hier vergeht kaum ein Tag, an dem nicht eine E-Mail hereinflattert, die auf aktuelle Hilfsangebote aufmerksam macht. Dies reicht von Gesprächsangeboten über Artikel, kostenlosen Zugang zu renommierten Mediations-Apps und Online-Seminare bis hin zu Resilienz-Gruppen.

Doch nicht nur das, auch ganze wöchentliche Meetings zur aktuellen Situation für die gesamte Klinik wurde schon diesem Thema gewidmet. Und das ist kein Einzelfall, diese E-Mails werden auch in anderen Kliniken hochfrequent verschickt. Es scheint, als wäre dies ein ganz selbstverständliches Thema, und als sei es wirklich relevant.

Schon dieser Satz im Konjunktiv sollte die Alarmglocken läuten lassen. Warum ist all das nicht normal für uns? Warum ist es in Deutschland nicht auch gang und gäbe, dass jede Klinik eine ganze Rubrik ihrer Website der psychischen Gesundheit ihrer Mitarbeiter*innen widmet?

In Deutschland bekomme ich oft das Gefühl, dass das Thema nur allzu schambesetzt ist. So findet man im Betrieblichen Gesundheitsmanagement einer Klinik vielleicht einen Rückenkurs, aber nicht-somatische Beschwerden werden außerhalb von Entspannungsangeboten quasi nicht thematisiert. Prominente Beispiele für eine vernünftige Vorsorge und Begleitung bei seelischen Beschwerden fehlen völlig. Auch in unseren 5vor12-Interviews wird häufig angesprochen, dass mentale Gesundheit keinen ausreichenden Stellenwert erfährt und mentale Beschwerden stark stigmatisiert werden. Dabei gibt es durchaus Bedarf, und das nicht nur aktuell [1]. Vor einiger Zeit schrieben wir eine Replik auf das Erlanger Kompetenzprofil, das bei der Auswahl von Medizinstudierenden diejenigen auszuwählen ersucht, die „in ihrem klinischen Alltag psychisch stabil bleiben“. Damals kritisierten wir unter anderem, dass so Sensibilität beziehungsweise Vulnerabilität als Schwäche etikettiert werden und suggeriert wird, ein*e gut*e Behandler*in könne nur sein, wer diese „Schwächen“ nicht aufweise.

Woher kommt der Gedanke, dass derjenige, welcher mit seiner psychischen Gesundheit zu kämpfen hat, eine Schwäche offenbart? Und, viel wichtiger, wie schaffen wir es, davon wieder wegzukommen?

Selbst mich in jemanden hineinversetzend, welcher in der Metrik „stark/schwach“ denkt, behaupte ich, die folgende Beobachtung widerspreche der Aussage, dass die „guten“ Behandler*innen zwingend die „starken“ sind: Die Kliniken, von denen ich zu Beginn sprach, gehören alle zu den Lehrkrankenhäusern der Harvard Medical School. Man mag über Ivy-League-Universitäten und „Eliteinstitutionen“ denken, was man mag, aber eines würde ich mit Sicherheit behaupten: Hier arbeiten nicht die “Schwachen” des Landes. Diese Kliniken können sich weitestgehend aussuchen, wen sie einstellen, und suchen sich sicherlich viele derjenigen aus, die man im Spektrum eher bei „leistungsstark“ verorten würde. Dennoch scheint hier niemand immun gegenüber Belastung zu sein. So scheint es eher, als hätten die cleveren Absolvent*innen hier einiges richtig verstanden: Vor allem, wie essentiell mentale Gesundheit ist. Auch und gerade bei guten Behandler*innen. Und das auch außerhalb von Krisen.

Fazit: Institutionen, in denen die (sogenannten) Eliten des Landes versammelt sind, legen einen besonderen Wert auf die mentale Gesundheit ihrer Mitarbeitenden. Was können wir daraus lernen?


[1] Siehe dazu beispielsweise unsere Journal Clubs zu den Themen „Es ist verständlich, starken Stress zu erleben.“, „Arbeitsbedingungen und Gesundheitszustand junger Ärzte und professionell Pflegender in deutschen Krankenhäusern“ und „Zur mentalen Gesundheit von Medizinstudierenden“ sowie unsere 5vor12-Interviews.

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