Wie uns das „Ich muss gesund sein!“ vom eigentlichen Gesundsein abhält.


Sonja Steltmann

„Wenn ich in Behandlung gehe, dann habe ich eine psychische Erkrankung und dann wird mich niemand mehr wie vorher sehen.“ Kommen dir solche Gedanken bekannt vor?


In unserer Leistungsgesellschaft, in der Vergleiche mit Mitmenschen häufig als Maßstab angesetzt werden, entwickelt man oft den Anspruch, sich selbst keine Schwäche einzugestehen, persönliche Probleme nicht zu thematisieren und nur seine positiven Seiten zeigen zu dürfen – doch ist das gesund? Und halten uns nicht gerade diese Gedanken davon ab, uns zum Beispiel professionelle psychologische Hilfe zu suchen und damit wirklich gesund zu werden?

Menschen mit psychischen Erkrankungen werden oft fehleingeschätzt – als dubios, gefährlich und verrückt, nicht selbst entscheidungsfähig und abhängig von anderen (Rüsch et al. 2004). Das Stigma psychischer Erkrankungen ist in unserer Gesellschaft sehr präsent – worum handelt es sich dabei genau?


Stigma umfasst zum einen negative Gefühle und Gedanken gegenüber psychischen Erkrankungen und Menschen mit psychischen Erkrankungen sowie diskriminierendes Verhalten gegenüber diesen Personen.

Zum Beispiel kann es trotz guter Bewältigung einer psychischen Erkrankung zu Schwierigkeiten bei der Suche nach einer Arbeitsstelle kommen, oder auch zu Mobbing im privaten oder beruflichen Umfeld.

Zum anderen gehören auch die persönlichen Gefühle, Gedanken und Verhaltensweisen einer Person mit psychischer Erkrankung / psychischen Erkrankungen dazu, welche aufgrund des Stigmas in negativer Weise beeinflusst werden.

Das bedeutet, dass man negative Meinungen und Vorurteile selbst übernimmt, was dann möglicherweise zu weniger Selbstbewusstsein und zu entsprechenden damit einhergehenden Handlungen führt. Eine Person könnte beispielsweise ihre Jobsuche aufgrund der Gedanken aufgeben, sowieso nicht geeignet zu sein. In diesem Fall wird auch von Selbststigmatisierung gesprochen. Deutlich wird hiermit, wie die Internalisierung des Stigmas zu negativen Folgen führt.

Rüsch et al. (2004); Corrigan und Rüsch (2002)


Dabei sind psychische Erkrankungen nichts Seltenes. Laut der TACOS-Studie an einer deutschen Bevölkerungsgruppe konnte bei 45.4% der Personen erfasst werden, dass sie in ihrem bisherigen Leben mindestens eine psychische Erkrankungen hatten/haben (Meyer et al. 2000).

Bei einem so großen Anteil an Betroffenen ist zu erwarten, dass die verschiedensten Berufsgruppen betroffen sind. Und gerade Gesundheitsberufler*innen stehen hierbei vor einer besonderen Herausforderung. Eine Therapie, sich selbst Hilfe suchen – es hilft. Dieser Schritt wird aber aufgrund des Stigmas oft nicht gegangen, da zum Beispiel Befürchtungen bestehen, was Kolleg*innen oder Vorgesetzte denken oder welche Konsequenzen sie aus diesem Wissen ziehen werden. Doch man sollte sich nicht an zweite Stelle rücken, denn wenn man sich nicht um sein eigenes Befinden kümmert, kann man auch anderen nicht helfen.

Was können wir nun also tun, um dem Stigma zu trotzen? Die Normalisierung und offene Kommunikation über psychische Erkrankungen ist dabei ein wichtiger Schritt. Sowohl Wissensvermittlung als auch Kontakt mit Personen mit psychischen Erkrankungen könnten zur Reduktion des Stigmas beitragen (Corrigan und Rüsch 2002). Ein weiterer Schritt besteht darin, Mythen zu entlarven. Ein wichtiger Aspekt ist auch die Einbindung dieses Themas in das Bildungssystem. Bezogen auf Berufe im Gesundheitssystem sollte die eigene Psychohygiene (Erhaltung und/oder Erlangung psychischer Gesundheit; Dorsch Lexikon der Psychologie/Psychohygiene) stets fester Bestandteil von Aus- und Weiterbildungsangeboten sein.

Es erfordert Stärke und spezifisches Handwerkszeug, mit einer psychischen Erkrankung umgehen zu können, und es ist somit absolut angemessen, sich professionelle Hilfe zu suchen. Psychische Erkrankungen können behandelt werden. Und dies sollte so normal sein wie die Sorge um die körperliche Gesundheit. Denn wir erwarten ja auch nicht, unser Leben lang körperlich beschwerdefrei zu sein!

Literatur

Corrigan, Patrick W.; Rüsch, Nicolas (2002): Mental Illness Stereotypes and Clinical Care: Do People Avoid Treatment Because of Stigma? In: Psychiatric Rehabilitation Skills 6 (3), S. 312–334. DOI: 10.1080/10973430208408441.

Meyer, C.; Rumpf, H. J.; Hapke, U.; Dilling, H.; John, U. (2000): Lebenszeitprävalenz psychischer Störungen in der erwachsenen Allgemeinbevölkerung. Ergebnisse der TACOS-Studie. In: Der Nervenarzt 71 (7), S. 535–542. DOI: 10.1007/s001150050623.

Rüsch, N.; Berger, M.; Finzen, A.; Angermeyer, M. (2004): Das Stigma psychischer Erkrankungen – Ursachen, Formen und therapeutische Konsequenzen. In: Mathias Berger, Heide Hecht und A. Al-Shajlawi (Hg.): Psychische Erkrankungen. Klinik und Therapie, elektronisches Zusatzkapitel Stigma. 2. Aufl. München: Elsevier Urban & Fischer.

Psychohygiene (2020, 15. November). In Dorsch Lexikon der Psychologie. Verfügbar unter: https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/psychohygiene