Zum Wert der Arbeit in Gesundheitsberufen

Ein 5-vor-12 Interview von Felix Radtke.

Vorstellung der Interviewten

Name: Anja Huber

Alter: 34

Beruf/Berufung: Arbeits- und Organisationspsychologin

Anja Huber arbeitet als Projektleiterin für Personal- und Organisationsentwicklung an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften.

DIE FÜNF – Einstiegsfragen:

  1. Mentale Gesundheit ist für mich …

Für mich ist mentale Gesundheit psychisches Wohlbefinden. Das zeigt sich, in einem Zustand, wo sich, Muse, Herausforderung, Aktivität und Erholung die Balance halten.

  1. Was tun Sie persönlich für Ihre eigene Psychohygiene/um Abstand von Ihrem Berufsalltag zu bekommen?

Ich habe das Glück eine Arbeit zu haben, die mich erfüllt und bei mir zu einer hohen Arbeitszufriedenheit führt. Ich habe grosse Freiheit bei der Arbeitsgestaltung und kann mich einbringen. Gleichzeitig ist die Vereinbarkeit von Beruf und Freizeit meinem Arbeitgeber wichtig. Für mich ist dieser Umstand Prävention für psychische Überlastung. Der Austausch mit meiner Familie und meinen Freunden oder meine Freizeitaktivitäten laden meine Batterien wieder auf und helfen mir in stressigen Zeiten zusätzliche Energie zu mobilisieren und mit Herausforderungen umzugehen.

  1. Worin sehen Sie erste „Warnsignale“ beginnender psychischer Probleme bei Kolleg*innen und was tun Sie persönlich, wenn Sie diese bemerken?

Diese Frage ist schwierig zu beantworten, da die psychischen Probleme in ihrem Entstehen und Erscheinungsbild so vielfältig sind. Als Arbeits- und Organisationspsychologin sind für mich Warnsignale, wenn Kolleg*innen lange Zeit an beruflicher, physischer oder persönlicher Überlastung leiden, keinen Raum mehr für Regeneration und Erholung haben und über keine Ressourcen für den Umgang mit Stress verfügen und Verhaltensweisen zeigen, die man ernst nehmen muss. Das können z.B. gehäufte krankheitsbedingte Abwesenheiten oder Verhaltensweisen wie Gereiztheit am Arbeitsplatz sein. Es ist herausfordernd, psychische Probleme anzusprechen, da diese im Arbeitskontext tabuisiert werden und die betroffenen Personen Angst vor einer Stigmatisierung haben. Ich biete deshalb ein vertrauliches Gespräch an. 

  1. Was macht es Ihrer Erfahrung nach gerade für Behandelnde/Helfende so schwer, selbst Hilfe zu suchen und in Anspruch zu nehmen?

Ich glaube, dass Personen in helfenden Berufen gleichzeitig multiple Patientenbedürfnisse, Anliegen von Angehörigen und Teammitgliedern berücksichtigen müssen und dabei ihre eigenen Bedürfnisse vor dem Hintergrund dieser vielfältigen Verantwortung nicht mehr einbringen können. Weil Personen in helfenden Berufen Menschen in den schwierigsten Lebenssituationen unterstützen, birgt diese Arbeit das Potenzial emotionaler «Belohnung» und Befriedigung, aber auch das Risiko emotionaler Erschöpfung und von Stress. Selten ist vorhersehbar, wann ein Notfall eintritt, somit sind sie in stetiger Alarmbereitschaft und müssen überdies Fürsorge und Fachwissen in ihre Arbeit integrieren, alles in einem Kontext, in dem wenig Zeit zur Verfügung steht. Dadurch, dass wenig Zeit für die Bedürfnisbefriedigung der Anspruchsgruppen zur Verfügung steht, bleibt keine Zeit mehr die eigene Befindlichkeit wahrzunehmen. Ausserdem ist die Arbeit in den helfenden Berufen oft per Definition psychisch fordernd, somit wird vieles diesem Umstand zugeschrieben und eine Überforderung ist mit Scham, den beruflichen Anforderungen nicht gewachsen zu sein und Angst vor Stigmatisierung verbunden.

  1. Was müsste sich Ihrer Meinung nach ändern, um das Thema „psychische Störungen“ besonders bei im Gesundheitswesen arbeitenden Menschen zu enttabuisieren und zu entstigmatisieren?

Ich glaube, dass mehr Räume für die Selbstpflege von Menschen in helfenden Berufen geschaffen werden müssen und es Offenheit im Umgang mit psychischen Störungen am Arbeitsplatz braucht. Dafür sind u.a. eine Sensibilisierung der Arbeitgeber und der Arbeitskolleg*innen notwendig.

Die Frage aus dem Forum:

  1. Wir fragen uns bei Blaupause immer wieder, wie ein idealer Arbeitsplatz im Gesundheitswesen aussehen sollte. Auf Basis Ihrer Forschung: Welche Charakteristika sollte ein idealer Arbeitsplatz gerade für Pflegekräfte haben?

Ich denke, der ideale Arbeitsplatz ist für jeden etwas anderes. Aber idealerweise können in einem idealen Arbeitsplatz die Pflegenden ihrem Berufsethos entsprechend handeln. Sie haben Zeit für die Patientenbetreuung und können ihrem Fürsorgeanspruch gerecht werden, arbeiten auf Augenhöhe mit anderen Berufsgruppen im Gesundheitswesen, erleben Autonomie und Anerkennung zum Beispiel bei der Diagnosestellung. Gleichzeitig stehen sie Führungskräften gegenüber, die Vertrauen aufbauen und die berufliche Entwicklung unterstützen. Dies geht einher mit einer fortschrittlichen Personalentwicklung, die die Potentialentwicklung und -entfaltung fördert. Ich denke ideal ist auch ein Arbeitsplatz, der den Stellenwert von Werten anerkennt und die Wertevielfalt zum Thema macht und nicht als „unprofessionell“ deklariert und erst zur Sprache bringt, wenn es bereits zu Konflikten gekommen ist.

Die Fragen zur Expertise:

  1. Sie sind promovierte Arbeits- und Organisationspsychologin. Aus welcher Brille, mit welchem Interesse und mit welchen Fragestellungen, schauen Sie auf das Gesundheitswesen?

Mich interessieren Fragen rund um den Wert der Arbeit in den Gesundheitsberufen. Die Arbeit, die heute nicht automatisiert wird oder werden kann und durch Menschen erbracht wird, wird immer wertvoller. Wie erreichen wir ein modernes Gesundheitswesen, das den steigenden Pflegebedarf in guter Qualität befriedigen kann, die Effizienz steigert und gleichzeitig den Wert menschlicher Arbeit optimal nutzt? Zusammengefasst interessiert mich, wie man wirkliche Wert-Schöpfung erreicht.

  1. Ihre jüngste Publikation hat den Titel „Wert(er)schöpfung: Die Krise des Pflegeberufs“. Welche Werte sind dabei gemeint?

Gemeint sind damit die Werte von Pflegefachpersonen, die das Berufsethos prägen und versinnbildlichen, was gute Pflege ausmacht. Im Buch unterscheide ich zwischen «other oriented values» und «self-oriented values». «Other oriented values» sind eher globaler Natur und richten sich vornehmlich an den Patientinnen und Patienten aus. Beispiele sind «Fürsorge», «Interesse am Menschen» oder «Nächstenliebe». Diese Werte können auch als patientenfokussierte Werte bezeichnet werden. Demgegenüber sind «self-oriented values» Werte, die sich an den Pflegefachkräften selbst ausrichten. Beispielsweise die «Persönlichkeit» (z. B. geduldig, reflektiert, sozialkompetent etc.) oder die «Fachkompetenz».

  1. Auch in Ihrer Dissertation haben Sie sich schon mit der ‚Krise des Pflegeberufs‘ beschäftigt. In welcher Krise steckt der Pflegeberuf Ihrer Meinung nach?

Für mich zeigt sich die Krise darin, dass im Zuge des weltweiten Kostenanstiegs in den vergangenen Jahrzehnten, die Sparmassnahmen bei Personalkosten angesetzt haben. Als Konsequenz wurden das Gesundheitswesen und die Pflegearbeit „ökonomisiert“. Damit tat sich ein Spannungsverhältnis auf, nämlich als ökonomische auf pflegerische Werte trafen. In der Konsequenz nahmen die Pflegenden ihr Arbeitsumfeld zunehmend als „moralisch unbewohnbar“ war und haben das Gefühl, keine gute Pflege mehr leisten zu können. Als Folge davon wird es für Pflegefachpersonen immer schwieriger, sich mit dem Beruf zu identifizieren und die Unzufriedenheit mit dem Beruf steigt. Diese Unzufriedenheit zieht Kündigungen und oft auch den Berufsausstieg nach sich, was wiederum Kosten zu Lasten des Gesundheitswesens verursacht. Vor dem Hintergrund des Personalmangels aufgrund des steigenden Pflegebedarfs der Bevölkerung sind diese Kündigungen verheerend und die Folge ist die Krise im Pflegeberuf.

  1. Sie haben eine Umfrage mit über 300 Pflegefachpersonen durchgeführt. Was waren Ihre Haupterkenntnisse, gerade im Spannungsfeld zwischen Werterschöpfung und Wertschöpfung?

Die Frage möchte ich anhand von drei Erkenntnissen beantworten.

Zum einen fand ich es spannend, dass die Kündigungsgründe der Pflegefachpersonen noch die gleichen sind wie vor rund 80 Jahren, beispielsweise die Priorität nicht pflegerischer Aufgaben oder ungerechte Arbeitsbedingungen. Anstatt bei den Kündigungsgründen anzusetzen, hat man – wie vorhin erwähnt – bei den Kosten angesetzt. Leider nahm damit die Zeit der Pflegenden mit den Patientinnen und Patienten noch mehr ab und der administrative Aufwand stieg. Darüber hinaus kam es zu einer Mechanisierung der Pflegearbeit, was wenig Wertschätzung für den Pflegeberuf signalisiert. Zum anderen finde ich die Motivation für die Berufswahl erwähnenswert. So ist diese z.B. der „Kontakt mit Menschen“ oder „Menschen helfen zu wollen“. Deutlich wird, dass die Arbeit mit den Patientinnen und Patienten im Vordergrund steht, für diese jedoch immer weniger Zeit zur Verfügung steht.

Als dritte Erkenntnis möchte ich auf die beruflichen Werte der befragten Pflegefachpersonen eingehen. Es sind Werte, die für die Befragten „gute Pflege“ charakterisieren. Werte sind beispielsweise Fürsorge, Nächstenliebe oder Patientenorientierung. Auch hier wird der Patientenbezug deutlich.

Diese drei Erkenntnisse hängen zusammen: Die Motivation für die Berufswahl legt den Grundstein für die berufliche Sozialisation und Entwicklung. Als angenehmster Aspekt der Pflegearbeit gilt die Betreuung von Patientinnen und Angehörigen. Somit wird nicht primär die Arbeit selbst als unbefriedigend erlebt, sondern das Arbeitsumfeld. Dem Anliegen wie beispielsweise dem Bedürfnis, «Menschen helfen zu wollen» kann, aufgrund fehlender zeitlicher Ressourcen nicht entsprochen werden, was inneren Stress und Unbehagen auslösen kann. Dies kommt zum Ausdruck, dass es für Pflegefachpersonen immer schwieriger wird, ihre Rolle zu definieren und sich mit dem Beruf zu identifizieren. Fehlt die Identifikation mit dem Beruf und erzeugen die Arbeitsbedingungen immer mehr Druck, kann das darin resultieren, dass das Arbeitsfeld als «moralisch unbewohnbar» wahrgenommen wird. Daraus resultiert ein Spannungsfeld zwischen der Wertschöpfung im Zuge der Ökonomisierung und der Werterschöpfung, durch die unter Druck geratenen Werte von Pflegefachpersonen.

  1. Blaupause hat nicht nur Aufklärung zum Ziel, sondern möchte auch ein Umdenken auf politischer, gesellschaftlich-systemischer und individueller Ebene anstoßen. Welche Lösungsansätze bringen Sie mit Ihrer Publikation in den politischen wie wissenschaftlichen Diskurs ein?

In meinem Buch präsentiere ich ein Strategieframework, das an sechs Handlungsfeldern ansetzt, die sich aus meiner Forschung ergeben haben. Handlungsfelder sind beispielsweise die Personal- und Führungsentwicklung, die Gesellschaft resp. der Berufsstand oder der Übergang von Ausbildung und Praxis. Das Framework umfasst Strategien für die Bearbeitung der Handlungsfelder. Es sind Strategien, die organisationsintern wirken. Sie orientieren sich an der Verantwortung der Organisation für das Individuum. Damit eine adäquate Versorgung möglich ist, braucht es Massnahmen, die es den Leistungserbringern ermöglichen, diese Versorgung zu leisten. Es ist wichtig, dass Organisationen nicht nur Verantwortung für die Patientinnen und Patienten, sondern auch für die Mitarbeitenden übernehmen, damit eine langfristig kontinuierliche Versorgung erreicht werden kann, denn die Zufriedenheit der Patientinnen und Patienten ist eng verbunden mit der Mitarbeiterzufriedenheit.

Weitere Strategien richten sich an Bereiche ausserhalb der Organisationen des Gesundheitswesens, denn es ist für Organisationen nicht ausreichend, lediglich organisationsintern für ihre Mitarbeitenden Verantwortung zu übernehmen. Organisationen des Gesundheitswesens können ihren Einfluss im Rahmen des «Corporate Social Responsibility»-Gedankens auch auf gesellschaftlicher und politischer Ebene geltend machen. Dies kann dadurch geschehen, dass Mitarbeitende zu berufspolitischem Engagement ermutigt und vom Arbeitgeber unterstützt werden.

Als dritte Form von Strategien präsentiert das Strategieframework hybride Strategien, die gleichzeitig organisationsintern und -extern wirken. Diese Strategien fokussieren auf die Zusammenarbeit der Organisation mit externen Partnern (Ausbildungsinstitutionen). Damit der künftig weiterhin steigende Pflegebedarf adäquat gedeckt werden kann, braucht es Pflegefachpersonen mit einem entsprechenden Skill-Set. Hybride Strategien helfen, das «Angebot an qualifiziertem Pflegepersonal» und die «Nachfrage nach Arbeitnehmern mit spezifischem Skill-Set» einander anzugleichen.

DIE ZWÖLFTE – Abschlussfrage

  1. Welchen Rat möchten Sie Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten oder sich in einer entsprechenden Ausbildung befinden, hinsichtlich ihrer eigenen mentalen Gesundheit mit auf den Weg geben?

Dass sie neben der Fürsorge für Patientinnen und Patienten auch Selbstsorge pflegen und den Mut haben, die eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen, Be- und Überlastung zum Thema machen und sich bei der Organisationsentwicklung einzubringen, z.B. indem sie Unterstützungs- und Austauschgefässe einfordern. Aber auch die Gestaltung der Freizeit, so dass sie dort nicht „nur“ die Erwartungen anderer erfüllen, sondern auch ihre eigenen.  

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