Von Krisen und Chancen

Manchmal, wenn es einem sehr schlecht geht, denkt man, das geht nie vorbei. Gut gemeinte Ratschläge führen da oft zu Widerstand. Am meisten habe ich es gehasst, wenn mein Psychiater gesagt hat: „Eines Tages werden Sie diese Krise als Chance begreifen und dankbar sein für alles, was sie in dieser Zeit gelernt haben über sich.“ Dann habe ich innerlich aufgestampft und gedacht: “Nein, denn diesen Tag werde ich nicht erleben, und wenn Sie wüssten, wie es in mir aussieht, würden Sie nicht so sprechen.”

Und jetzt sitze ich hier und werde einen Text darüber schreiben, wie man eine Krise als Chance begreifen kann. – Als Chance, sich selbst kennenzulernen, sein Leben zu überdenken und zu lernen, was einem gut tut und was nicht. Die eigenen Grenzen kennenzulernen und zu formulieren, Knoten im Kopf zu lösen und neue Wege zu gehen. Wege in ein besseres, gesünderes Leben.

Wenn wir über sehr lange Zeit bestimmten Verhaltensmustern folgen, ist es normal, dass wir es immer wieder mit diesen Wegen versuchen. Eine Therapeutin hat mir gegenüber das Beispiel von Autobahnen genutzt. Unsere Verhaltensweisen sind wie eine gut ausgebaute Autobahn: erprobt, bequem und schnell. Wenn wir eine neue Verhaltensweise erlernen, ist es, als würden wir uns einen Trampelpfad durch das Dickicht schlagen: unbequem, anstrengend, frustrierend. Manchmal kommen wir nicht einmal da an, wo wir hinwollten, und müssen es noch einmal in einer anderen Richtung versuchen. Kein Wunder, dass wir oft auf die Autobahn zurückfallen. Hat ja immer funktioniert und geht so schön schnell. Das Wichtige ist, den Trampelpfad nicht aufzugeben und Stück für Stück, Tag für Tag ein bisschen weiter auszubauen. Und ja, das kann lange dauern. Mitunter Jahre. Es wird so langsam voran gehen, dass wir den Fortschritt kaum wahrnehmen. So, dass wir uns nie vorstellen können, so jemals irgendwo anzukommen und wütend werden, wenn jemand suggeriert, dieser kräftezehrende Prozess könnte für irgendetwas nützlich sein. In winzig kleinen Schritten vorwärts. Doch irgendwann blickt man zurück, und sieht, welchen Weg man zurückgelegt hat, wie man ihn ausgebaut hat und er immer angenehmer zu nutzen wird.

Heute habe ich mir neue Autobahnen gebaut. Und ich bin so dankbar für alles, was ich in dieser schweren Zeit gelernt habe. Ich wünsche mir zwar, es nicht auf diese Weise gelernt haben zu müssen, und doch bin ich dankbar, nicht mehr die alte Autobahn zu fahren. So dankbar. Ich bin dankbar für alles, was ich in dieser Zeit über mich gelernt habe, meine Stärken und meine Grenzen, wie ich um Hilfe bitten kann und Warnzeichen von Überlastung erkennen kann. Ich bin dankbar für alles, was ich über Kommunikation gelernt habe, und dass ich dieses Wissen jeden Tag im Umgang mit Patient*innen und Kolleg*innen nutzen darf.

Am Ende hat mein Psychiater Recht behalten. Ich bin dankbar. Wenn wir in einem tiefen dunklen Loch stecken und das Ende nicht sehen, bleibt uns manchmal nur das Wort von anderen, die uns sagen, dass das vorbei gehen kann. Und dass es eine Chance ist. Eine Chance zu einem ausgeglicheneren, erfüllteren Leben. Und wenn ihr jetzt innerlich aufstampft und denkt: „Sie hat ja keine Ahnung, wie es mir gerade geht!“ – I feel you. Und heute kann ich es sein, die anderen versichert: Es kann besser werden, ganz bestimmt. Und irgendwann könnt ihr vielleicht zurückblicken auf eure neue Autobahn und jemand anderem Mut machen, der gerade nicht weiß, wohin das führen soll. Denn in jeder Krise steckt auch eine Chance.

Die Blogeinträge spiegeln die persönlichen Meinungen und Erfahrungen der Autor*innen wider.

Wenn du mehr von unserer Autorin, die an dieser Stelle gern anonym bleiben möchte, lesen willst, schau dir doch auch die Artikel “Über Stigma und Schuld”“Von Home-Office und Selbstoptimierung und „Von Ehrgeiz und Selbstfürsorge“ an. 
Die Autorin ist der Redaktion bekannt.

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