Ich bin müde. Der Tag war lang und ich habe viel gemacht. Aber der Tag ist noch nicht vorbei. Also sollte ich noch weiter arbeiten, lernen, lesen – richtig? Doch Moment: ich muss mir auch meine Auszeiten nehmen. Ich bin krank und es ist wichtig, dass ich ausreichend schlafe, abschalte, versuche herunterzukommen. Aber meine Kollegen arbeiten sicher noch. Zuhause, nach dem Abendessen, sie lesen Behandlungsstrategien nach und schreiben Paper. Sie sind erfolgreich. Ich will auch erfolgreich sein. Also muss ich weiter machen. Oder? Und wenn ja, zu welchem Preis?
Wie so oft stecke ich in dieser Zwickmühle. Ich würde sagen, beinahe jeden Tag. Denn ist der anstrengende Tag endlich zu Ende, beginnt die Zeit, die fast noch schlimmer ist. Das Selbststudium, die Selbstinitiative, die Zeit für die ganz Strebsamen, noch einmal richtig was aus sich herauszuholen. Die Zeit des schlechten Gewissens. Denn während man auf der Arbeit zumindest anwesend ist, muss man sich nun entscheiden: Ehrgeiz oder Entspannung, Paper oder Popcorn auf dem Sofa, Ärzteblatt oder Arztserie – Gewinner oder Verlierer? So einfach ist es natürlich nicht, aber es fühlt sich oft so an. Dazu trägt die Grunderkrankung sicherlich einen Teil bei, aber auch die so oft betitelte „Leistungsgesellschaft“, die uns weismachen will, dass man jede Minute des Tages produktiv nutzen muss. Aber geht das? Und ist das wirklich sinnvoll? So oder so, ich kann nicht. Ich bin einfach zu erschöpft. Ich verfluche die Depression und entscheide mich gegen das Arbeiten. Und ich hadere mit meiner Krankheit. Warum ich? Warum kann ich nicht produktiv sein wie alle anderen? Warum bin gerade ich dazu gezwungen, so viel auf mich zu achten, weil das, was sonst folgt, viel schlimmer ist als mein unbefriedigter Ehrgeiz? Was, wenn ich genau wegen dieses Abends hinter allen zurückbleibe? Und warum schaffen es alle anderen so scheinbar mühelos?
Ich bin natürlich genau in die Falle getappt. Alle präsentieren, wie mühelos sie ihr Leben schultern und man sieht nur das Positive. Gepaart mich einem geschwächten Selbstwertgefühl ergibt die Gleichung absolute gefühlte Unzulänglichkeit. Doch die persönliche Komponente mal ausgeklammert, stelle ich mir folgende Fragen: Kann ich überhaupt den ganzen Tag arbeiten oder lenke ich mich unweigerlich ab? Und ist das, was ich leiste, dann noch qualitativ hochwertig?
Wie wirkt es sich auf die Leistungsfähigkeit aus, wenn wir uns keine Erholung gönnen?
Auch wenn es große interindividuelle Unterschiede bei der persönlichen Leistungsfähigkeit geben kann, werfe ich einen Blick auf die aktuelle Studienlage. Auch mit konkretem Blick auf das Gesundheitswesen gibt es doch einige Studien, die sich mit dem Thema im weiteren Sinne auseinandersetzen. So wurde festgestellt, dass Pflegekräfte überdurchschnittlich häufig die gesetzlich vorgesehenen Pausenzeiten nicht einhalten können und in der Folge häufiger unter psychosomatischen und muskuloskelettalen Beschwerden leiden. Interessanterweise können Pausen selbst bei allgemein sehr hoher Arbeitslast diesen negativen psychischen und physischen Folgen entgegenwirken1. Außerdem konnte bei Ärzt*innen gezeigt werden, dass Burnout als Folge einer langen Exposition gegenüber einer hohen Arbeitslast dazu führt, dass die Produktivität (in diesem Review gemessen an geleisteten Arbeitsstunden, gesehenen Patient*innen, Ausfall durch Krankheit, Ausscheiden aus dem Beruf, Arbeitsbelastung und Präsentismus) der Betroffenen sinkt2. In chirurgischen Fächern kann eine zu hohe Arbeitslast die Leistung des Behandlers negativ beeinträchtigen und das Risiko von Zwischenfällen erhöhen3. Wochenenddienste, lange Arbeitszeiten und Overcommitment sind bei jungen Gesundheitsberufler*innen assoziiert mit einem negativen Einfluss auf den subjektiven Gesundheitszustand und dem Risiko, ein Burn-out zu erleiden4.
Komplett beruhigt das mein Gewissen noch nicht. Trotzdem scheint es mir, als seien meine Kollegen alle „Übermenschen“, für die die Arbeitsbelastung gar kein Problem darstellt und die auch nach Feierabend noch weiter Energie haben. Aber natürlich würde auch kaum jemand das Gegenteil von sich preisgeben. Ich tröste mich also damit, dass ich gar nicht weiß, wie produktiv meine Kollegen wirklich sind. Bei meinem Bild meiner Kollegen handelt es sich schließlich nur um meine eigene Produktion von dem, was ich präsentiert bekomme. Und das Ergebnis ist in der Regel ein verklärtes Bild der anderen. Außerdem weiß ich rein kognitiv natürlich, dass es weder mir noch meinem Paper noch meinen Patienten etwas bringt, wenn ich mich an den Schreibtisch setze und mich gar nicht mehr konzentrieren kann. Da ist die Zeit anders vermutlich besser investiert. Zum Beispiel in Erholung, damit ich morgen wieder fit bin[a]. Jeder in seinem Tempo. Ich versuche also, mich zu entspannen und meinen freien Abend zu genießen. Doch so ganz gelingt mir das nicht. Denn es bleibt ein bitterer Beigeschmack, ein Gedanke, der sich festklammert und den ganzen Abend nicht abschütteln lässt:
Bin ich am Ende doch einfach zu schwach für meinen Beruf?
[a] Und auch hier verfalle ich meinem Hang zur Selbstoptimierung: Erholung als Investition. Muss die Erholung denn einen Sinn haben? Selbstoptimierung statt Selbstfürsorge: Kann das das Ziel sein? Muss ich mich ausruhen, um auf der Arbeit besser zu „performen“ und noch mehr zu schaffen? Oder ist die Erholung auch für sich schon ein Wert, etwas, dass ich genießen darf und sollte, ohne dass es einen eigentlichen Zweck hat? Kann ich ein Gleichgewicht finden im Streben nach maximaler Leistungsfähigkeit und einem ausgeglichenen Leben? Ich meine immer, dass mich der Erfolg glücklich machen würde, doch vermutlich liegt der Schlüssel für Glück und Zufriedenheit woanders. Vielleicht darin, den Augenblick zu genießen, achtsam und ohne spezifisches Ziel. Aber das wäre schon wieder ein Thema für einen neuen Blogbeitrag. Für heute will ich es dabei belassen.
Die Blogeinträge spiegeln die persönlichen Meinungen und Erfahrungen der Autor*innen wider.
Wenn du mehr von unserer Autorin, die an dieser Stelle gern anonym bleiben möchte, lesen willst, schau dir doch auch die Artikel „Über Stigma und Schuld“ und „Von Home-Office und Selbstoptimierung„ an.
Die Autorin ist der Redaktion bekannt.
Literatur:
1. Lohmann-Haislah, A., Wendsche, J., Schulz, A., Schöllgen, I. & Pinzon, L. C. E. Einflussfaktoren und Folgen des Ausfalls gesetzlicher Ruhepausen bei Pflegekräften in DeutschlandDeterminants and outcomes of skipping mandatory rest breaks in German nurses. Z. Arbeitswiss. 73, 418–438 (2019).
2. Wallace, J. E. & Lemaire, J. Physician well being and quality of patient care: An exploratory study of the missing link. Psychol. Heal. Med. 14, 545–552 (2009).
3. Pfaff, H. Surgical safety and overwork. Br. J. Surg. 91, 1533–1535 (2004).
4. Raspe, M. et al. Working conditions and health status of young physicians and nurses in German hospitals. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforsch. – Gesundheitsschutz 63, 113–121 (2020).
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