Auf ihrem Blog Das Klemmbrett – Gedanken einer Psychotherapeutin teilt Janine Erfahrungen aus ihrem Arbeitsalltag und möchte so zu Aufklärung und Entstigmatisierung beitragen.
Dieser Artikel ist ursprünglich auf dasklemmbrett.de erschienen. Hier wird er mit Einverständnis der Autorin erneut veröffentlicht.
Die Blogeinträge spiegeln die persönlichen Meinungen und Erfahrungen der Autoren wider.
Während sich der Durchschnittsdeutsche dank google schon unzählige (schwere) körperliche Erkrankungen selbst diagnostiziert hat, halten wir uns dabei mit psychischen Erkrankungen bisher in der Regel zurück. Mit der Psyche setzten sich Viele erst auseinander, wenn es gar nicht anders geht. Wenn man von Freunden und Familie dazu gedrängt wird, Hilfe aufzusuchen oder man im Alltag nicht mehr “funktioniert”. Erst wenn ein Fachmann irgendeine F-Diagnose auf einen Zettel kritzelt, dann muss man wirklich was tun, dann ist man wirklich krank.
Mentale Gesundheit bedeutet jedoch nicht die völlige Abwesenheit von jeglicher psychischer Beeinträchtigung, es geht hier niemals um Alles oder Nichts, es ist ein Kontinuum. Stressoren, egal ob als positiv oder negativ empfunden, können Schwankungen auf diesem Kontinuum auslösen, je nach Größe des Stressors und je nach Grundpersönlichkeit können diese kleiner oder größer ausfallen. Einschlafschwierigkeiten, Konzentrationsprobleme, Appetitlosigkeit oder Weinen (und vieles mehr) können als völlig normale Reaktionen auf Belastungen aufgefasst werden. Solange diese in ihrem Ausmaß und ihrer Dauer zeitlich eng begrenzt sind, sind sie nicht krankheitswertig. Aber sie sind dennoch relevant und wichtige Wegweiser. Wenn unsere Gedanken seit Tagen um ein Thema kreisen, scheint es wohl ein Thema zu sein, was uns emotional beschäftigt. Wenn ich erschöpft und gereizt bin, habe ich mich vielleicht mit etwas übernommen. Rast das Herz immer in der gleichen Situation, bereitet mir anscheinend etwas großes Unwohlsein. Es lohnt sich dies anzuschauen und zu verstehen und im besten Fall etwas zu verändern.
Der Übergang von mentaler Gesundheit zu einer psychischen Erkrankung ist also lang und fließend. Es gibt für jede psychische Erkrankung genau vordefinierte Kriterien, die zur Vergabe erfüllt sein müssen. Das Vergeben von Diagnosen erlaubt es, sofort ein Grundwissen über Entstehung, Ausprägung und Behandlung abzurufen und dies auch zwischen Experten kommunizieren zu können. Und wir benötigen sie um unsere Leistungen abzurechnen. Aber nicht erst mit der Vergabe einer solchen, wird die Hinwendung zu unseren Gedanken und Gefühlen und Verhaltensweisen notwendig. Nur oftmals fangen wir eben dann erst an.
Deshalb lieber frühzeitig auf sich achten. Was aber auch gar nicht so leicht ist wenn man noch keine „Grenzerfahrungen“ gemacht hat und somit weiß wo die eigenen Belastungslimits verlaufen.
Da Diagnosen auch zur Orientierung des Betroffenen dienen können sind sie meiner Meinung nach auf keinen Fall zu verteufeln. Wenn man eben im Hinterkopf behält, dass auch Diagnosekriterien menschengemacht und Schwankungen unterworfen sind. Deshalb als meine persönliche Leitlinie: Wenn du dich nicht wohl fühlst, dich in deinem Leben eingeschränkt fühlst, in deinem Kopf/deinen Gefühlen und Handlungen quasi eingesperrt fühlst und es anders haben möchtest aber nicht so ganz weißt wie du dort hin kommen kannst: Dann mal „Hilfe“ suchen 🙂