„Ich sehe keinen Nachteil mehr in meiner Erkrankung.“


Dieses Interview ist im Rahmen einer Kooperation mit Hashtag Gesundheit entstanden und erscheint auch dort.

Die Fragen stellten Eva Kuhn und Katharina Eyme. 

Name: anonym 

Alter: 30 Jahre 

Beruf/Berufung:  Ärztin in Weiterbildung zur Psychiaterin und Psychotherapeutin 

Aufgabenfeld im Gesundheitswesen:  Assistenzärztin in der Psychiatrie 

DIE FÜNF – Einstiegsfragen: 

  1. Mentale Gesundheit ist für mich … 

… mein täglich Brot. Beruflich und privat. Sie ist grundlegend für Lebensqualität.  

  1. Was tust du persönlich für deine eigene Psychohygiene/um Abstand von deinem Berufsalltag zu bekommen? 

Durch einen längeren Arbeitsweg entsteht neben räumlicher auch eine innere Distanz zu meinem Job. Die Fahrtwege dienen dem nochmaligen Durchdenken des Arbeitstages. Anschließend kann ist meistens gut abschalten. Mit meiner Fahrgemeinschaft fällt die Psychohygiene auf dem Weg noch leichter.  

  1. Worin siehst du erste „Warnsignale“ beginnender psychischer Probleme bei Kolleg*innen und was tust du persönlich, wenn du diese bemerkst? 

Anzeichen beginnender seelischer Überlastung oder Erkrankung sehe ich in zunehmender Gereiztheit oder Anspannung meiner Kollegen oder dem Rückzug aus der Gemeinschaft des Teams. Wenn ich mich selbst fit genug fühle, suche ich den Kontakt zu betroffenen Kollegen und thematisiere meine Beobachtungen. Das Wissen, mit den eigenen Beschwerden gesehen und nicht übersehen zu werden, hilft oft schon.  

  1. Was macht es deiner Erfahrung nach gerade für Behandelnde/Helfende so schwer, selbst Hilfe zu suchen und in Anspruch zu nehmen? 

Je tiefer man mit einer Thematik, beispielsweise der Feststellung und Behandlung psychischer Erkrankungen, befasst ist, desto schwerer fällt oft der Blick auf das große Ganze. Es ist der berühmte Wald voller Bäume, der dann kaum erkennbar ist.  

Bei sich selbst dann entsprechende Anzeichen und Symptome zu sehen, sie als solche zu deuten und in ihrer Gesamtheit zu erfassen, bedarf oft Außenstehender. Zusätzlich herrscht oft die Grundannahme: „Betroffen sind die Patienten. Sie sind wirklich krank.“ Die eigene Symptomatik wird dann schnell negiert und nicht ernst genommen. Sich selbst zu einem Patienten zu machen, ist ein schwieriger Schritt. 

  1. Was müsste sich deiner Meinung nach ändern, um das Thema „psychische Störungen“ besonders bei im Gesundheitswesen arbeitenden Menschen zu enttabuisieren und zu entstigmatisieren? 

Es bedarf viel mehr Aufklärung über psychische Erkrankungen. Im Gesundheitswesen und darüber hinaus. 

Zur Förderung der Prävention müssen psychiatrische Krankheitsbilder Teil des schulischen Lehrplans werden. In Bezug auf Entstigmatisierung im Gesundheitswesen muss auch hier der Lehrplan während der Ausbildungen angepasst werden. Während 13 Semestern Medizinstudiums in nur einem halben Jahr für zwei Stunden wöchentlich die gesamte Psychiatrie abbilden zu wollen und echte Er- und Aufklärung zu schaffen, ist vor dem Hintergrund der Häufigkeit der Erkrankungen, der entstehenden Kosten für das Gesundheitssystems und der Anzahl betroffener Mitarbeiter desselben absurd.  

Ein fundiertes Wissen in der Breite der Gesellschaft und vor allem der Mitarbeiter des Gesundheitssystems, um und über psychiatrische Erkrankungen ermöglicht die Früherkennung, eine schnelle Weiterleitung der Betroffenen an entsprechende Fachärzte und damit eine Eindämmung der Folgeschäden durch lange Krankheitsphasen.  

Die Frage aus dem Forum: 

  1. Von einer psychischen Erkrankung selbstbetroffene Kolleg*innen haben mitunter das Problem, sich nicht (mehr) so gut von Patient*innen abgrenzen zu können, da sie das Leid der Patient*innen sehr bewegt. Was tust du selbst, um von solchen Schilderungen, die du aus eigener Erfahrung nachempfinden kannst, nicht getriggert oder emotional zu stark involviert zu werden? 

Ich liebe meine Arbeit als Psychiaterin. Sie bietet mir Halt und einen Sinn und inzwischen sehe ich keinen Nachteil mehr in meiner Erkrankung. Ich kann den depressiv Erkrankten gut nachempfinden, kann Ihnen Empathie entgegenbringen und ihnen Worte für das Unbeschreibliche, das sie erleben, bereitlegen. Oft entstehen auf diese Weise gute Beziehungen mit diesen so stark verunsicherten Menschen.  

Je schwerer ich gerade selbst von der Depression betroffen bin, desto schwieriger wird es, die Patienten noch emotional mitzunehmen, denn in depressiven Phasen leide ich unter zunehmender Gefühllosigkeit. Durch das Spiel mit offenen Karten in unserem Therapeuten-Team auf meiner Station kann ich auf den Rückhalt meiner Kollegen zählen. Dann übernehme ich vermehrt die Versorgung von Patienten mit anderen Erkrankungen.   

Die Fragen zur Expertise:  

  1. Du bist selbst seit dem Medizinstudium von depressiven Episoden betroffen. Wann und warum hast du dich entschieden, selbst Psychiaterin zu werden? 

Schon vor dem Medizinstudium und vor meiner Erkrankung war ich von der Arbeit als Psychotherapeutin fasziniert. Kurzfristig war ich für Psychologie als Studiengang eingeschrieben, entschied mich dann aber für das Medizinstudium.  

Im Laufe des Studiums wurde mir während zahlreicher Praktika immer deutlicher, dass mir die somatische Medizin nicht liegt. Im Gegensatz zu den meisten meiner Kommilitonen konnte ich mich nicht für invasive Interventionen begeistern und den Druck im Kampf um Leben und Tod nur schwer aushalten.  

Ich verbrachte im Weiteren meine Praktika in psychiatrie-nahen Bereichen. Hier fand ich die Bestätigung und in der Psychiatrie meine Nische. 

Dass ich in der Zwischenzeit selbst erkrankt und psychotherapeutisch behandelt worden war, festigte meinen Plan. Der Behandlung seelischer Erkrankungen messe ich aus jeder Perspektive höchsten Stellenwert bei.  

  1. Was hat dich bewogen, den Blog Per-Spektivwechsel ins Leben zu rufen? 

Neben meiner Arbeit als Psychiaterin begeistert mich der exakte Umgang mit geschriebenen Worten. Das Schreiben bietet mir die Möglichkeit, auszudrücken, was ich nicht auszusprechen wage. Ganz in Ruhe sortiere ich mein Gedankenchaos auf dem geduldigen Papier. Während ich früher all meine Texte entsorgt habe, weiß ich heute, dass sie meinen Vertrauten und auch so vielen anderen Menschen helfen, die Perspektive depressiv Erkrankter kennen- und verstehen zu lernen. Und Verstehen schafft Verständnis.  

Ebenso denke ich über andere psychische Erkrankungen. Mein Privileg, von den wahren Experten der Erkrankungen, meinen Patienten, geleitet, diese Krankheitsbilder immer besser kennen- und verstehen lernen zu dürfen, möchte ich auf meinem Blog teilen. 

Je mehr Verstehen und Verständnis für psychiatrische Erkrankungen und psychiatrisch Erkrankte (mit-)geteilt werden kann, desto geringer sind Vorurteile und Stigmata. 

  1. Welche Perspektive auf mentale Gesundheit – und als Teil davon: psychische Erkrankungen – fehlt in der gesellschaftlichen Wahrnehmung? 

Der Fokus auf mentaler Gesundheit gewinnt in der Gesellschaft an Bedeutung. Achtsamkeit und Selbstfürsorge gehören bald schon zum guten Ton und in jedem Kalender wird ein Time-Slot dafür eingeplant.  

Doch abgesehen von der gesellschaftlich anerkannten und in der Gesellschaft be-kannten Diagnose des „Burn Out“ fehlt es an Wissen und Aufklärung über psychische Erkrankungen. Es fehlt also überhaupt an Spektiven, durch die auf psychische Krankheitsbilder geblickt wird.  

Die gesamte Bandbreite dieser Erkrankungen muss in den Fokus und die Ver-rückten vom Rande in die Gemeinschaft gerückt werden. Ihnen muss der Spuk um sie und ihre Erkrankung genommen werden. Vor Dingen die wir kennen, haben wir naturgemäß weniger Angst, als vor der großen, unbekannten Dunkelheit. Ich möchte versuchen, Schritt für Schritt Licht in diese Dunkelheit bringen. Die Betroffenen brauchen – wie alle – einen Platz in der Mitte der Gesellschaft.  

  1. Viele Betroffene haben das Gefühl, ihre Erkrankung vor Kolleg*innen und Patient*innen geheim halten zu müssen. Teilst du Patient*innen mit, dass du selbst an Depression erkrankt bist? Warum – oder warum nicht? 

Bislang teile ich Patienten nicht direkt mit, auch unter Depressionen zu leiden. Hin und wieder wird es für sie aber aus meinen Beschreibungen und Kommentaren deutlich.  

Zum Einen möchte ich manche Patienten vor dem Verantwortungsgefühl mir gegenüber schützen. Es soll um sie als Betroffene gehen.  

Zum Anderen gibt es in dem klinischen Umfeld, in dem ich derzeit noch arbeite, teilweise nur wenig Verständnis für betroffene Kollegen, sodass ich mich vorranging deshalb leider noch undercover bewege.  

  1. Welche Schubladen müssten deiner Meinung nach dringend ausgemistet werden, wenn es um Depression bei Ärzt*innen, Gesundheits- und Krankenpfleger*innen und anderen Gesundheitsprofessionen geht? 

Die Schublade, in die Ärzte und Ärztinnen, aber auch alle weiteren Mitarbeiter des Gesundheitssystems gesteckt werden, sich stecken lassen oder sich selbst stecken, muss mit all ihrem altbackenen Inhalt in die große Schublade der Menschen gekippt werden.  

Von seelischer Erkrankung können alle Menschen gleichermaßen betroffen sein. Auch Mitarbeitende des Gesundheitssystems bleiben nicht qua Amt gesund. Sie können auch depressiv, psychotisch oder substanzabhängig werden. Dann unterscheiden sie sich nicht mehr von den Patienten und benötigen dieselben Hilfen. Vielleicht brauchen sie aber vorab etwas mehr Unterstützung, wenn es um Achtsamkeit und Selbstfürsorge geht. Um rechtzeitigen Eigenschutz, die Abgabe von Verantwortung.

DIE ZWÖLFTE – Abschlussfrage 

  1. Welchen Rat möchtest du Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten oder sich in einer entsprechenden Ausbildung befinden, hinsichtlich ihrer eigenen mentalen Gesundheit mit auf den Weg geben? 

Ihnen möchte ich raten, sich im Zuge ihrer Ausbildung mit seelischen Erkrankungen auseinanderzusetzen. Sie kennenzulernen. Erkrankte Menschen achten zu lernen. Ich möchte sie dazu ermutigen, Vorurteile offensiv durch Verstehen, Verständnis und die Fähigkeit zum Perspektivwechsel abzubauen. Dann ist auch der Weg, gegebenenfalls auftretende Symptome bei sich selbst oder bei Kollegen wahrzunehmen, ernst zu nehmen und für Hilfe zu sorgen viel kürzer.  

Was ist 5vor12? 

5 vor 12 – der psychische Druck auf im Gesundheitswesen Beschäftigte steigt zunehmen. Immer mehr Mitarbeiter*innen in Krankenhäusern, Beratungsstellen und psychosozialen Institutionen leiden selbst an psychischen Erkrankungen. Es ist, ganz wörtlich 5 vor 12 und höchste Zeit, dass Menschen, die im Gesundheitsweisen arbeiten, zu Wort kommen und ihre beruflichen, wissenschaftlichen und persönlichen Erfahrungen mit einer breiten Öffentlichkeit teilen.  

In unseren “5 vor 12”-Interviews sprechen wir mit Expert*innen über mentale Gesundheit im Gesundheitswesen. Expert*innen sind für uns all diejenigen Personen, die im Gesundheitswesen arbeiten, als Gesundheitsberufler*in selbst von einer psychischen Erkrankung betroffen sind oder zu diesem Thema forschen. 

Du siehst dich selbst ebenfalls in einer der drei Kategorien (1) tätig im Gesundheitswesen, 2) psychisch Erkrankte*r Gesundheitsberufler*in, 3) Wissenschaftler*in mit Schwerpunkt mentale Gesundheit im Gesundheitswesen) und möchtest deine Erfahrungen gerne in einem “5 vor 12”-Interview mit uns teilen? 
 
Dann melde dich bei uns unter vorstand@blaupause-gesundheit.de 
Selbstverständlich sind auch anonyme Interviews möglich. 

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