Inwieweit und warum sind Ärztinnen psychosozial mehr belastet als Ärzte?  

Ein auf Wunsch anonym veröffentlichter Beitrag.

ÄrztInnen leiden mehr als andere Berufsgruppen unter arbeitsbedingten Stress, wie eine Studie unter Verwendung des Fragebogens zu „Arbeitsrelevanten Verhaltens- und Erlebensmustern“, kurz AVEM (1) zeigt. Die Auswertung dieses Fragebogens hat ergeben, dass ÄrztInnen mit 47% den größten Anteil an reduzierten Arbeitsengagement und Distanzierung gegenüber beruflichen Belastungen zeigen, gleichzeitig haben sie mit 17% den geringsten Anteil an gesunden Verhaltens- und Erlebnismustern (2). Ebenfalls zeigte diese Studie, ebenso wie zahlreiche weitere, dass ÄrztInnen, neben den LehrerInnen, mit 27% das höchste Risiko für Resignation und Burnout haben. Nationale und internationale Studien belegen, dass Mediziner im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung ein erhöhtes Risiko haben, Depressionen zu entwickeln und eine signifikant höhere Suizidrate haben (3-5).  Sowohl die Prävalenz für Depressionen als auch die Suizidrate weist geschlechtsspezifische Unterschiede auf. Für Depressionen haben Frauen allgemein ein erhöhtes Risiko, etwa doppelt so hoch ist die Lebenszeitprävalenz im Vergleich zu Männern (8). Bei einer Studie von Beschoner et al (2016) hat ein größerer Anteil von Frauen angegeben, bereits einmal wegen beruflicher Überlastung krankgeschrieben worden zu sein, sind aktuell oder waren früher in psychotherapeutischer Behandlung und litten schon einmal an einer Depression (9). 

Das Suizidrisiko wird im Vergleich zum relativen Risiko in der Normalbevölkerung bei Ärzten je nach Studie bei 1,5- 2,5-fach erhöht und bei Ärztinnen bei 2,5- 5,6-fach erhöht beziffert (10-13). Eine Studie von Black stellte fest, dass 6,5% aller Ärztinnen versuchen, sich im Laufe ihres Lebens zu suizidieren (14). Eine erhöhte Rate versuchter Suizide von Ärztinnen im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen deckt sich mit den Daten aus der Allgemeinbevölkerung, die belegen, dass Frauen um ein Drittel mehr Suizidversuche begehen als Männer (15).  

Die Gründe für das signifikant höhere Auftreten psychischer Erkrankungen sowie die erhöhte Rate von Suizidversuchen in dieser Berufsgruppe sind vielschichtig. Als Hauptprädikatoren gelten bestimmte Arbeitsbedingungen wie die langen, unregelmäßigen Arbeitszeiten, der Mangel an Wertschätzung, Rollenunklarheit- und konflikte, die mangelnde Autonomie, die Erwartungshaltung der Patienten, administrative Arbeiten, Routinearbeiten und wenig soziale Unterstützung als Coping-Strategie (16, 17). Ebenso stellen der erleichterte Zugang zu Medikamenten (Substanzmissbrauch) sowie das spezifische Wissen über Suizidmethoden Risikofaktoren dar (18).  

Bereits im Medizinstudium weisen Medizinstudierende eine geringere psychische Gesundheit auf und die Prävalenz psychischer Erkrankungen ist höher als in der Normalbevölkerung. In einer empirischen Studie von Seliger und Brähler (2007) wurde unter Verwendung des „Patient Health Questionnaire“ (PHQ, Gesundheitsfragebogen für Patienten) an der Universität Leipzig festgestellt, dass Medizinstudentinnen in den Bereichen „andere Angstsyndrome“, „major depression syndrome“ und „Stressbelastung“ höhere Werte aufwiesen wie die im vergleichbaren Alter befindliche weibliche Normalbevölkerung. Ebenso waren die Werte der Medizinstudentinnen höher als die ihrer männlichen Kommilitonen (19). Eine Studie von Voltmer et al. (2010) konnte an der Universität Lübeck unter Anwendung einer auf Studierende angepassten Version des AVEM zeigen, dass nicht nur die gesunden Verhaltensweisen von Medizinstudierenden im Laufe des Studiums abnehmen, und dass sie eine signifikant geringere psychische Gesundheit aufweisen, sondern auch das Burnout Risiko von ursprünglich 7,2 % auf etwa 20% steigt. Auch diese Studie stellt geschlechtsspezifische Unterschiede fest: Studentinnen haben ein höheres Risiko für Überarbeitung sowie eine geringere Prävalenz für gesunde Verhaltensmuster (20).  

Die Ursachen der schlechten psychischen Konstitution Medizinstudierender bleiben größtenteils auch nach dem Abschluss des Studiums bestehen. Beispielsweise werden Medizinstudierende bereits im Laufe der ersten vier Semesters innerhalb des Präparierkurses mit dem Tod konfrontiert, was für einige Studierende eine psychische Belastung darstellt, für die die wenigsten Universitäten eine (niedrigschwellige) Anlaufstelle haben, obwohl eine Studie von Bernhardt et al. (2012) an der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg zeigt, dass etwa 50% der Medizinstudierenden dem Anatomiekurs mit Befürchtungen und rund 10% erheblich besorgt vor dem ersten Kontakt mit Leichen gegenübersteht (21). Themen wie Leid, Krankheit und Sterben der Patientinnen rücken im klinischen Abschnitt des Studiums in den Mittelpunkt und bleiben in den meisten Berufsalltagen je nach Weiterbildung in unterschiedlich hohem Ausmaß erhalten. Ebenso ist bereits im Studium die Arbeits- beziehungsweise während des Studiums vor allem die Lernbelastung besonders hoch, für viele Studierende gehört Schlafmangel zum Alltag, besonders vor großen Prüfungen.  

Warum aber Medizinstudentinnen und Ärztinnen nicht nur im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung, sondern auch im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen ein erhöhtes Risiko für mangelndes mentales Wohlbefinden haben, wurde bisher nur in wenigen Studien untersucht, obwohl Frauen inzwischen knapp zwei Drittel aller Medizinstudierender ausmachen und mehr als 48% aller berufstätigen Ärzte Frauen sind (22). Eine genaue Untersuchung würde sich angesichts der hohen Prävalenz lohnen, um Präventionsmaßnahmen zu ergreifen, die problemorientiert und geschlechtsspezifisch sind. 

In der Studie von P. Beschoner et al (2016) zeigen die Ergebnisse, dass von in der Klinik tätigen ÄrztInnen Frauen vor allem als Assistenzärztinnen tätig waren, während Männer sich überwiegend in leitenden Positionen befinden (9), diese Ergebnisse decken sich mit den Statistiken der Bundesärztekammer, nach denen Frauen insgesamt nur etwa 12% der leitenden Klinikpositionen besetzen, obwohl sie wie bereits beschrieben 48% aller berufstätigen ÄrztInnen ausmachen (22). Der Frauenanteil in der Medizin steigt allerdings erst seit den letzten 15-20 Jahren, was unter anderem eine Rolle spielen könnte bei dem höheren Männeranteil in leitenden Positionen, neben der Tatsache, dass Frauen mehr in Teilzeit arbeiten (9). Die Studie von P. Beschoner et al (2016) konnte feststellen, dass Frauen, die als Assistenzärztinnen angestellt waren, signifikant häufiger unter emotionaler Erschöpfung litten als Frauen in leitenden Positionen. Warum die Tätigkeit in Assistenzpositionen als emotional belastender wahrgenommen wird, konnte mit den vorliegenden Daten nicht beantwortet werden. Festgestellt werden konnte allerdings, dass die persönliche Erfüllung in leitenden Positionen, bei Männern und Frauen, stärker ausgeprägt war (9).   

Ärztinnen arbeiten mehr in Teilzeit und mehrere Studien zeigen, dass Ärztinnen auf weniger Wochenarbeitszeit kommen. Alfermann et al (2006) berichten, dass jedoch einer etwa zwei Stunden niedrigere Wochenarbeitszeit rund fünf Stunden höherer zeitlicher Aufwand bei der Hausarbeit entgegenstehen, dementsprechend haben sie einen höheren zeitlichen Aufwand bei geringeren Arbeitsverdienst. Aber auch in bei gleicher Wochenarbeitszeit und in vergleichbaren Positionen verdienen Fachärztinnen 7-9% weniger als Fachärzte (24).  

Hinsichtlich der familiären Situation lassen sich in verschiedenen Studien die deutlichsten geschlechtsspezifischen Unterschiede feststellen. Unabhängig von den Fachrichtungen sind Frauen bis zu doppelt so oft ledig wie Männer (9), ebenso haben Männer tendenziell häufiger und mehr Kinder als ihre Kolleginnen. Die Gründe für diese Verteilung lassen sich aus den in der Studie erhobenen Daten nicht erklären. Denkbar ist es, dass es für beruflich geforderte und erfolgreichen Frauen aufgrund von altmodischen Rollenbildern schwieriger ist, einen Partner/eine Partnerin zu finden, als für einen entsprechenden Mann. Man kann ebenfalls schlussfolgern, dass Frauen sich mehr als Männer für Karriere oder Familie entscheiden müssen, wie Erfahrungsgespräche von Ärztinnen mit Vorgesetzten zeigen: „Sie müssen sich schon entscheiden – entweder Sie werden Chirurgin oder Sie bekommen Kinder“ (25).  

Verhältnispräventive Maßnahmen sind nicht nur wichtig, um die Gesundheit von Ärztinnen und Ärzten zu gewährleisten, sondern auch die der Patienten. Studien belegen, dass es einen proportionalen Zusammenhang zwischen der Gesundheit des Arztes und der Qualität der Patientenversorgung gibt.  

Die Prävalenz psychischer Krankheiten ist sowohl bei Ärztinnen als auch bei Ärzten höher als bei der Normalbevölkerung, es besteht also generell eine Notwendigkeit verhaltens- und verhältnispräventiver Maßnahmen, sowohl im ambulanten als auch im klinischen Sektor. Wichtig sind dabei Individualpräventionsmaßnahmen und niedrigschwellige Anlaufstellen, bei denen gewährleistet ist, dass das Hilfe suchen keine negativen Konsequenzen mit sich bringt, denn unter anderen diese Befürchtung führt aktuell dazu, dass sich Ärztinnen und besonders Ärzte keine oder erst spät professionelle Hilfe suchen. Ärzte und Ärztinnen reagieren unterschiedlich auf die Anforderungen an ihre berufliche Position und auf berufliche Überlastung, daraus lässt sich ableiten, dass es gezielte Angebote und Maßnahmen zur geschlechtsspezifischen Prävention und Intervention braucht (9).  

Mindestens genauso essenziell sind verhältnispräventive Maßnahmen, die ÄrztInnen schützen und zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen (9). Dazu gehören planbare Arbeitszeiten und Teilzeitmodelle, deren Ausarbeitung momentan noch vom jeweiligen Chefarzt abhängt. Außerdem sollten Betriebskindergärten mit einer Öffnungszeit von 12 Stunden, die die Arbeitszeit der Eltern auch bei ungeplanten Überstunden abdeckt, selbstverständlich sein (25).  

Möglicherweise sollte man auch eine Quote für Oberärztinnen in Betracht ziehen, damit Frauen beweisen können, dass sie für Führungspositionen geeignet sind. Das erweist sich bisher als schwierig, wenn sie trotz der Tatsache, dass sie fast die Hälfte aller berufstätigen ÄrztInnen ausmachen (Tendenz steigend, da der Anteil weiblicher Medizinstudierender steigt) in Führungspositionen nur zu einem Bruchteil davon vertreten sind.  

Literatur:  

  1. Schaarschmidt, U. (2006): AVEM: Ein Instrument zur interventionsbezogenen Diagnostik beruflichen Bewältigungsverhaltens. (https://www.psychotherapie.uni-wuerzburg.de/termine/dateien/Schaarschmidt180407_AVEM.pdf, 15.08.2022). 
  1. Voltmer E., Kieschke U., Spahn C. (2007): Work-related behaviour and experience patterns of physicians compared to other professions. Swiss Med. Wkly. 137, 448–453. 
  1. Braun M, Schönfeldt-Lecuona C, Freudenmann RW et al (2010): Depression, burnout and effort-reward imbalance among psychiatrists. Psychother Psychosom 79, 326–327 
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  1. P. Beschoner, M. Braun, C. Schönfeldt-Lecuona,  R. W. Freudenmann, J. von Wietersheim (2016): Gender-Aspekte bei Ärztinnen und Ärzten. Berufsleben und psychosoziale Belastungen. Bundesgesundheitsblatt 2016 (59), 1343-1350. 
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