Ein Essay von Max Plura.
Definition und Bedeutung von Verhältnisprävention am klinischen Arbeitsplatz:
Der Begriff der Prävention im medizinischen Sinne umfasst jegliche Maßnahmen, deren Ziel es ist, die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von gesundheitlichen Problemen, seien sie psychischer oder körperlicher Natur, zu verringern. Die Verhältnisprävention ist eine Form von Prävention, bei der die strukturellen Umweltbedingungen beziehungsweise die gesellschaftlichen Verhältnisse, denen viele Menschen ausgesetzt sind, verändert werden. Ein Beispiel dafür ist die Gurtpflicht in Autos oder Rauchverbote an öffentlichen Plätzen. Im Gegensatz zur Verhaltensprävention, welche zum Beispiel durch gezielte Wissensvermittlung an der Einstellung der Menschen ansetzt, dann aber deren individuelle Initiative und Bereitschaft für Veränderung für eine adäquate Umsetzung erfordert, betrifft die Verhältnisprävention, da sie flächendeckend eingesetzt wird und vom Arbeitgeber oder Gesetzgeber vorgeschrieben wird, eine viel größere Anzahl an Menschen.1 Besonders der Arbeitsplatz eines Krankenhauses, welcher oftmals von Hektik, Schichtdiensten und sehr großen Belegschaften geprägt ist, ist der Einsatz und die rückblickende Evaluation der Wirksamkeit von Verhältnisprävention wichtig, da nicht nur sehr viele Mitarbeiter auf einmal von den Maßnahmen profitieren könnten, sondern auch weil die kontinuierliche Optimierung der Arbeitsabläufe und körperlich und psychisch gesundes Personal sich positiv auf die Versorgung und Genesung der Patienten auswirkt.2
Grundsätzliche Bereiche für Verhältnisprävention im Krankenhaus:
Um das übergeordnete Ziel, die Rahmenbedingungen der ärztlichen und pflegerischen Arbeit im Krankenhaus zu verbessern, Erkrankungen und Überlastungen des Personals zu vermeiden, wirkungsvoll umzusetzen, müssen zunächst kritische Ansatzpunkte für Verhältnisprävention ausgemacht und aufgeschlüsselt werden. Übergeordnet lassen sich drei Bereiche feststellen, in welche mit Verhältnisprävention eingegriffen werden kann: Zunächst wären dies technische Interventionen. Diese betreffen die Gestaltung des Arbeitsplatzes an sich und sorgen für eine ergonomische Arbeitsumgebung z. B. durch ergonomische Stühle, angepasstes Licht oder Lärmschutzanlagen.
Administrative Interventionen umfassen dagegen Maßnahmen, welche in die Arbeitsorganisation und -struktur eingreifen. Dazu gehören z. B. Pausenregelungen, Verbesserungen des Betriebsklimas, der Kommunikation untereinander oder Einrichtung einer transformationalen Führung weg von autoritären Hierarchien.
Zuletzt können auch personelle Interventionen zur Verhältnisprävention beitragen. Dazu zählen Trainings- und Schulungsmaßnahmen, welche dem Personal dabei helfen sollen, selbst ihre gegebenen Arbeitsbedingungen optimal zu nutzen. Beispielsweise werden in solchen Kursen günstige Hebetechniken oder die auf den eigenen Körper angepasste Ausrichtung des Bildschirmarbeitsplatzes gelehrt. Diese Maßnahmen zeigen auch Überschneidungen mit der Verhaltensprävention.3
Konkrete Probleme und Umsetzungsbeispiele für Verhältnisprävention im Krankenhaus:
Exemplarisch werden nun im Folgenden einige organisationale Probleme angeschnitten, erläutert und mögliche Lösungsansätze dargelegt.
Vor allem im Bereich der Arbeitsorganisation finden sich zahlreiche Aspekte, die verbesserungswürdig sind. So gibt es zahlreiche Arbeitsunterbrechungen, z. B. müssen Pfleger aufgrund des engen Zeitplans und der vielen Arbeit oftmals zusätzlich Arbeiten, die eigentlich von Pflegehelfern ausgeführt werden sollten, zusätzlich übernehmen, da diese entweder chronisch unterbesetzt sind oder selbst – trotz Arbeit an ihrer Belastungsgrenze – mit ihren Aufgaben nicht fertig werden. Daran anknüpfend gibt es auch oft Informationsprobleme; es ist oft nicht klar, wer genau für welche Aufgaben verantwortlich ist, was zu einer sehr für Fehler anfälligen, chaotischen Arbeitsatmosphäre führen kann. Oftmals wird dabei auch leider nicht direkt auf diejenigen, welche dem Stationsalltag ausgesetzt sind zugegangen, um Lösungen auf Augenhöhe zu diskutieren, sondern die Ressourcen des Krankenhauses werden von den Verantwortlichen ohne eine Expertise und Mitsprache von Pflegepersonal getroffen.
Um diese Probleme anzugehen, sollte es eine verbesserte Koordination der Stationsabläufe geben und vor allem der Einsatz von Personal mit allen Mitarbeitern diskutiert werden, sodass Fehlentscheidungen vermieden werden, um die ohnehin schon knappen Ressourcen von Krankenhäusern möglichst sinnvoll zu verteilen. Außerdem sollten die Vorgesetzten mehr Präsenz zeigen, da direkte Informationen von Mitarbeitern über die Zustände im Krankenhaus an ihre Vorgesetzten deren Entscheidungsfindung positiv beeinflussen.
Um das Teambuilding, welches aufgrund der ständigen Rotation durch die Schichtdienste oftmals zu kurz kommt, zu stärken und Probleme bei der Zusammenarbeit zu beheben, sollten eine Reorganisation von Dienstplänen und die Förderung von Teamwork z. B. durch gemeinsame Feiern oder Aktivitäten in Betracht gezogen werden. Diese Aspekte sind sehr wichtig für ein gutes Arbeitsklima und eine stabile mentale Gesundheit der Mitarbeiter.4
Als weiterer Faktor und oftmals Stressor für viele Mitarbeiter stellt sich die Gestaltung der Führung heraus. Der in Krankenhäusern oftmals hierarchisch autoritäre Führungsstil wirkt sich negativ auf die Psyche, die Arbeitsleistung und das Arbeitsklima der Mitarbeiter aus. Er verringert die Produktivität und hat einschneidende Auswirkungen auf die mentale Gesundheit des Personals. Gerade in Krankenhäusern, einem Arbeitsplatz, welcher äußert psychologisch fordernd ist und eine hohe Burnout- und Depressionsrate bei Pflegern und Ärzten besitzt, ist der Fokus auf dem Erhalt der mentalen Gesundheit unabdingbar. Im Gegensatz zum autoritären Führungsstil ist belegt, dass sich eine so genannte transformationale Führung positiv auf die Arbeitsmoral, die Gesundheit der Mitarbeiter und die des Führungspersonals selbst auswirkt.
Grundlegend für die transformationale Führung ist der aktive Austausch von Mitarbeitern und Führungspersonal auf Augenhöhe. Dies verringert nicht nur Missverständnisse, sondern auch, dass sich aufgrund mangelnder Kommunikation Probleme anstauen und so sukzessiv zu einer schlechten Beziehung untereinander führen. Durch einen stetigen Austausch kann sich außerdem die Beziehung zwischen Führung und Mitarbeitern immer weiterentwickeln.
Eine Studie von Stuber et al. aus dem Jahr 2019, welche sich mit den Einzelheiten der transformationalen Führung im Detail auseinandersetzte kam zu folgenden Ergebnissen: Die Selbsteinschätzungen von Führungspersonal über deren eigene Führung unterschied sich deutlich von der Fremdeinschätzung der Mitarbeiter. Das Führungspersonal schätzte sich in allen Kategorien besser ein als die Mitarbeiter ihre Führung einschätzte. Ein Beispiel dafür wäre die Einschätzung der Beziehung zwischen Mitarbeitern und Führungsebene. Diese wurde wie in der im Vorigen beschriebenen Diskrepanz beurteilt, ebenso wie die Einschätzung, ob die Führung eher bereits transformationale oder noch autokratische Züge hätte. Die Studie konnte zeigen, dass je größer die Diskrepanz zwischen der Einschätzung von Führung und Mitarbeiter war, sich das Arbeitsklima als umso schlechter herausstellte. Dies betont im Besonderen die Wichtigkeit eines aktiven Austauschs zwischen Mitarbeitern und Führungspersonal.5
Voraussetzungen für eine erfolgreiche Umsetzung von verhältnispräventiven Maßnahmen im Krankenhaus:
Es gibt gewisse Rahmenbedingungen, die sich entweder als förderlich oder als Hemmnisse in Bezug auf die Umsetzungen von organisationalen Interventionen herausstellen. Am rudimentärsten wäre zunächst anzuführen, dass einer Veränderung Raum und Zeit zur Umsetzung gegeben werden sollte. Dies erweist sich im Krankenhausbetrieb jedoch als Herausforderung, da die ohnehin schon personell knapp bemessenen Dienstpläne zusätzlich vom Schichtdienst geprägt sind, was eine Umsetzung in kurzer Zeit fast unmöglich macht. Für eine ausreichende Verankerung organisationaler Veränderungen sollte ein Zeitraum von mindestens einem Jahr angesetzt werden.
Jedoch sind auch die Einstellung und Grundhaltung der Mitarbeiter und die Offenheit für Veränderungen nicht zu unterschätzen. Dazu gehört eine realistische Abschätzung der Veränderungen, sodass am Ende keine zu großen Erwartungen an das Projekt gestellt werden und sich dadurch das Arbeitsklima im Nachhinein noch verschlechtert. Außerdem ist Wille der Mitarbeiter, sich aktiv an dem Prozess zu beteiligen und die Verbesserungen auch kontinuierlich umzusetzen, ausschlaggebend.
Letztlich bedarf es für eine erfolgreiche Umsetzung von verhältnispräventiven Maßnahmen auch einer starken Einbindung der Verantwortlichen, deren ausdrücklicher Zustimmung und fortwährenden Unterstützung. Nur wenn sich die Führung der ausgemachten Schwachstellen bewusst sind, können sie für die Umsetzung der vorgeschlagenen Lösungen sorgen. Sollten einige Lösungen z. B. aufgrund mangelnder Ressourcen nicht umgesetzt werden können, muss dies breit kommuniziert werden, sodass dies für alle Mitarbeiter nachvollziehbar und verständlich ist.6
Evidenz von Verhältnisprävention im Krankenhaus:
Die Studienlage zu Verhältnisprävention im Krankenhaus ist bis zum heutigen Stand noch recht dünn besiedelt. Einige Übersichtsarbeiten und Metastudien sind jedoch zu folgenden Ergebnissen gelangt: Verhältnispräventive organisationale Maßnahmen zeigen einen höheren Effekt als am Individuum orientierte verhaltenspräventive Ansätze. Oft ist jedoch kein deutlicher Vorteil von verhältnispräventiven Maßnahmen erkennbar, wobei Modernisierungen der Dienstzeiten dazu eine begrüßenswerte Ausnahme stellen.7
Literatur:
- vgl. Faller, Hermann, Lang, Hermann: Medizinische Psychologie und Soziologie. Berlin 2019. S. 364-374.
- vgl. Vorabdruck des Kapitels: Weigl, M. (2018). Organisationale Interventionen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Krankenhaus. Kapitel 1.22, In Angerer, P. et al. (Hrsg). Arbeiten im Gesundheitswesen – Psychosoziale Arbeitsbedingungen – Gesundheit der Beschäftigten – Qualität der Patientenversorgung, 301. Ecomed – Storck: Landsberg.
- vgl. Kempf, Hans-Dieter: Die neue Rückenschule. Berlin 2019. S. 204-206.
- vgl. Vorabdruck des Kapitels: Weigl, M. (2018). Organisationale Interventionen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Krankenhaus. Kapitel 1.22, In Angerer, P. et al. (Hrsg). Arbeiten im Gesundheitswesen – Psychosoziale Arbeitsbedingungen – Gesundheit der Beschäftigten – Qualität der Patientenversorgung, 301. Ecomed – Storck: Landsberg.
- vgl. Stuber, Felicitas, Seifried-Dübon, Tanja et al.: Investigating the Role of Stress-Preventive Leadership in the Workplace Hospital: The Cross-Sectional Determination of Relational Quality by Transformational Leadership. 2019.
- vgl. Vorabdruck des Kapitels: Weigl, M. (2018). Organisationale Interventionen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Krankenhaus. Kapitel 1.22, In Angerer, P. et al. (Hrsg). Arbeiten im Gesundheitswesen – Psychosoziale Arbeitsbedingungen – Gesundheit der Beschäftigten – Qualität der Patientenversorgung, 301. Ecomed – Storck: Landsberg.
- vgl. 6