Ein Beitrag von Chiara.
Treffen sich 9 angehende Mediziner*innen und desinfizieren sich achtsam ihre Hände…
Wer jetzt auf eine Pointe wartet, sollte unbedingt weiterlesen.
Im Rahmen des EMSA Spring Assembly 2019, einem Treffen Medizinstudierender aus ganz Europa, hat Blaupause einen Workshop zu „resilience in the medical professions“ angeboten, von dem wir euch in diesem Blogbeitrag berichten möchten.
Gesundheit, noch dazu psychische Gesundheit, ist ein Thema, über das im Alltag kaum gesprochen wird, erst recht nicht unter Mediziner*innen. Wir waren daher gespannt, wie schnell sich ein lösungsorientierter Dialog entwickelt, wenn man Medizinstudierende eigene Ideen entwickeln lässt, was Resilienz in ihrem Studien- und Klinikalltag fördern könnte und wo sich in ihrem Alltag Anlässe bieten, Achtsamkeit zu praktizieren. Vor der Beschreibung des Workshops möchte ich euch noch kurz die Definitionen dieser beiden Konzepte vorstellen:
Resilienz (lat. resilire, „zurückspringen“) ist die Fähigkeit, schwierige Lebenssituation zu bewältigen, ohne daran zu zerbrechen. Die American Psychological Association (2014) beschreibt Resilienz als dynamischen Anpassungsprozess: „The process of adapting well in the face of adversity, trauma, tragedy, threats or even significant sources of stress, such as family and relationship problems, workplace or financial stressors – it means “bouncing back” from difficult experiences.“
Achtsamkeit entlehnt sich der buddhistischen Tradition und beschreibt einen Zustand, in dem Bewusstsein und Aufmerksamkeit auf gegenwärtige Erfahrungen gerichtet sind.
Zurück zum Workshop: Auch hier haben wir mit einer kurzen Definition des Resilienzbegriffs begonnen und was die Achtsamkeit betrifft, sind wir radikal mit der Tür ins Haus gefallen und zwar in Form einer kurzen Übung, der achtsamen Händedesinfektion. Sich 30 Sekunden lang die Hände zu desinfizieren, ohne Ablenkung und in bewusster Vergegenwärtigung des Moments, führte einerseits zu sauberen Händen, andererseits zu fragenden Blicken. Und genau diese Verwunderung war der erste Anlass für eine kurze Diskussion: Warum haben wir die Händedesinfektion als Einstieg ausgewählt? Seltsamer Humor? Dauert ein achtsamer Arbeitsalltag nicht doppelt so lange, weil ich alles in Slow-Motion mache? Die Händedesinfektion gehört zu den häufigsten Tätigkeiten im Arbeitsalltag von Ärzt*innen. Erfahrungsgemäß gehört sie jedoch auch oft zu den verhasstesten. Was wäre, wenn man genau diese immer wieder auftauchende, kurze Zwangspause nutzen würde, um tief durchzuatmen, Ablenkungen auszublenden und sich zu sammeln? Dann hätte man der hygienischen Händedesinfektion einen neuen Bedeutungsrahmen als kurze, sozial akzeptierte Auszeit vom Stress gegeben. Und dauert ein achtsamer Arbeitstag nun länger, weil alles ganz langsam geschieht? Wir denken: „nein“ und bleiben bei unserem Desinfektionsbeispiel: 30 Sekunden sind 30 Sekunden. Die Frage ist doch, ob ich in dieser Zeit meinen Fokus auf das richte, was ich gerade tue oder ob ich abgelenkt bin und mich gedanklich mit tausend anderen Dingen befasse.
Nach dieser ersten Diskussion wurden die Teilnehmenden gebeten, sich in Gruppen an vier Pinnwänden zu versammeln und dort ihre Erfahrungen und Sichtweisen auszutauschen und eigene Ideen zu entwickeln. Unsere Pinnwandkategorien umfassten die Themen „Interaktion und Kommunikation“, „Vorbilder und ihre Resilienz-Strategien“, „Achtsamkeit in meiner täglichen Routine“ und „Eigenschaften eines idealen Krankenhauses“. Die einzige Regel bei der Ideenfindung war, den Studien- und Klinikalltag aus einer lösungs- und ressourcenorientierten Perspektive zu betrachten. Nach einigen Minuten wurde im Uhrzeigersinn von einer Wand zur anderen rotiert und wir waren von der Kreativität und Produktivität der Studierenden sehr beeindruckt. Ein echter Bonus war die internationale Zusammensetzung der Teilnehmer*innen, die teilweise auf ganz unterschiedliche Erfahrungen zurückgreifen konnten und doch bei vielen Punkten feststellten, dass es Dinge gibt, die überall wichtig zu sein scheinen.
Nach intensiver Arbeitsphase wurde zur Pause in den nahegelegenen Botanischen Garten gebeten – ein kleines Stück Natur mitten auf dem Klinikgelände. Alle hatten zehn Minuten Zeit für einen achtsamen Spaziergang bei Sonnenschein und die Gelegenheit, die Pflanzenvielfalt mit allen Sinnen zu bewundern und zu genießen. Freude entlockte das angebotene Naturerlebnis jedoch nicht allen: „Ich bin müde und hungrig und habe so gar keine Lust, jetzt spazieren zu gehen!“ sagte eine Teilnehmerin, die wie die meisten am Abend zuvor mit EMSA-Kommiliton*innen feiern war. Umso erfreulicher war, was nach zehn Minuten passierte. Alle Teilnehmenden, auch die Hungrigen und Müden, kehrten entspannt und ausgesprochen gut gelaunt zum Treffpunkt zurück.
In der anschließenden Diskussionsrunde wurden Spaziergang und Arbeitsergebnisse des Ideenkreises gemeinsam reflektiert. Erstaunt wurde zunächst berichtet, dass die kurze Auszeit im Grünen, das stille für sich Umherwandel gerade denjenigen besonders gut getan hat, die eigentlich gar nicht in der Stimmung dafür waren. Bei der Besprechung der Ergebnisse auf den einzelnen Pinnwandkategorien fiel auf, dass trotz unterschiedlicher Herkunftsländer bei fast allen Punkten Konsens bestand: Das ideale Krankenhaus verfügt über eine ansprechende Architektur, das die Bedürfnisse von Klinikpersonal und Patient*innen gleichermaßen berücksichtigt. Die ideale Klinik ist übersichtlich, bietet Besuchenden und Patient*innen Orientierung und erleichtert die täglichen Abläufe durch eine klug geplante Logistik. Sie bietet gesundes Essen und schöne Aufenthaltsräume an. Ein stressreduzierender Bezug zur Natur wird durch Pflanzen, Gärten und Gestaltungselemente (Bilder etc.) hergestellt. Interaktion und Kommunikation sind wertschätzend und respektvoll, im Team unterstützt man sich gegenseitig und gibt einander konstruktives Feedback. Studierende können durch interaktive Lehr-Lernformate wie „Problem-Based Learning“ und Mentoring ihre Kompetenzen erweitern. Eine Hierarchie orientiert sich an den Kompetenzen, nicht am Titel und sie wird stets Outcome-orientiert eingesetzt denn das Wohl der Patient*innen steht im Mittelpunkt. Kurz: Evidenzbasierung statt Eminenzbasierung. Erfolgreiche Resilienz-Vorbilder waren „the buddhist doctor“, ein tiefenentspannter und Achtsamkeit praktizierender Kardiologe aus Sri Lanka, den auch der größte Trubel nicht aus seiner inneren Mitte bringen konnte. Als Merkmale von Resilienz-Vorbildern wurden u.a. die Fähigkeit, sich selbst Fehler zu verzeihen, Selbstbewusstsein, Selbstfürsorge, Selbstvertrauen und innere Ruhe genannt. Die eigene achtsame Routine kann Rituale wie den Morgenkaffee oder das bewusste Ablegen des Arztkittels nach Schichtende beinhalten. Überhaupt bieten sich unzählige Möglichkeiten, den Alltag achtsamer zu gestalten, unter anderem auch die Fokussierung auf die Schönheit des Lebens während einer rektal-digitalen Untersuchung. Wie bitte? Genau dieser Punkt stand auf der Pinnwand und wurde zunächst argwöhnisch als Scherz beäugt. In der Plenumsdiskussion stellte sich heraus, dass der Verfasser hier nicht ganz ernst war – um während er lachte doch zu erklären, dass ihm bewusst geworden sei, wie er sich manchmal während der Durchführung körperlicher Untersuchungen noch unsicher fühle und zugleich das Bestreben habe, die Patienten souverän und einfühlsam zu untersuchen. In diesem Moment wurde das, was als Scherz daherkam, für alle nachvollziehbar und zu einer Offenbarung eigener Unsicherheiten, deren Erleben die anderen teilten. Und so wurde man sich doch einig: die rektale Untersuchung gehört vielleicht nicht zu den beliebtesten ärztlichen Tätigkeiten, aber sich eigener Vorbehalte und Ansprüche an das Handeln bewusst zu werden ist ein wichtiger Schritt, um Lösungsstrategien entwickeln zu können. Vielleicht hilft ja eine achtsame Händedesinfektion zur Einstimmung?
American Psychological Association (2014). The road to resilience. Retrieved from https://www.apa.org/helpcenter/road-resilience