„Das Stigma psychischer Erkrankung“ – eine Buchempfehlung

Ein Beitrag von Eva Kuhn 

Der Autor von „Das Stigma psychischer Erkrankung – Strategien gegen Ausgrenzung und Diskriminierung“, Prof. Dr. med. Nicolas Rüsch, ist Leiter der Sektion Public Mental Health der Universität Ulm. Mit unserer etwas anderen Rezension möchten wir euch ein paar Perlen des Buches vorstellen– und natürlich neugierig auf mehr machen. 

Worum geht es? 

Es geht um Stigma als „zweite Krankheit“ (S. 1) in all seinen Facetten und Ausprägungen – individuell, strukturell und Selbststigma; Stigmatisierung im Beruf, bei der Wohnungssuche, in den Medien – und im Gesundheitswesen. Vor allem aber bleibt Nicolas Rüsch nicht bei den Problemen stehen, sondern ziehen sich Lösungsansätze, Anti-Stigma-Strategien und ganz konkrete positive Beispiele durch das Buch wie ein roter Faden. 

Wem ist dieses Buch zu empfehlen? 

Als „wissenschaftsbasiertes Sachbuch“ ist es allen zu empfehlen, die  

  • mehr über die Ursachen, Ausprägungen und Folgen von Stigma psychischer Erkrankungen erfahren wollen. 
  • sich einen Überblick über den Stand der Wissenschaft zum Thema verschaffen wollen. 
  • nach Ideen suchen, wie Stigma begegnet und abgebaut werden kann. 
  • mit Stigmatisierten arbeiten und ihr eigenes Verhalten reflektieren wollen – hier ganz besonders auch Gesundheitsberufler*innen. 
  • selbst stigmatisiert werden und die gesellschaftlichen wie individuellen Mechanismen hinter der Stigmatisierung verstehen wollen. 

Welche Erkenntnis des Buches sollte Allgemeinwissen werden? 

Psychische Gesundheit (und Krankheit) muss sozial gedacht werden. Zu diesen sozialen Faktoren gehören Bildung, Arbeits- und Wohnverhältnisse, das Umfeld, aber auch gesellschaftliche Tendenzen wie Toleranz, (Un-)Gerechtigkeit und vieles mehr. Psychische Erkrankungen und soziale Faktoren sind dabei mehrfach interdependent. Es wird nicht nur sozial definiert, was als psychische Erkrankung gilt. Vielmehr können soziale Bedingungen (wie beispielsweise der geringe sozio-ökonomische Status einer Person) auch Ursache für eine psychische Erkrankung sein. Dass eine solche psychische Erkrankung ihrerseits soziale Folgen haben kann, zeigen Diskriminierung, Isolation und öffentliches wie strukturelles Stigma (vgl. S. 33f). 

Welche Erkenntnis hat bei der Lektüre am meisten überrascht? 

Oft wird eine psychische Erkrankung mit einer körperlichen Erkrankung verglichen – auch bei Blaupause (‚eine depressive Phase ist wie ein gebrochenes Bein‘). Um die Überraschung vorwegzunehmen: Dieser Vergleich verstärkt Vorurteile gegenüber Personen mit psychischer Erkrankung jedoch eher. In jedem Fall vermindert der „Disease-like-anyother-Ansatz“ Vorurteile nicht (S. 233). Zurückzuführen ist das auf dahinterstehende biologische Krankheitsmodelle, die eine psychische Erkrankung meist eindimensional über biologische (besonders genetische) Faktoren erklären, aber soziale, psychologische und andere Faktoren unberücksichtigt lassen. (vgl. S. 87ff.) 

Welche Erkenntnis hat bei der Lektüre besonders nachdenklich gestimmt? 

Die vielschichtige Rolle und der überaus negative Einfluss von Selbststigma auf Personen mit einer psychischen Erkrankung. 

Selbststigma bedeutet, dass sich die Person, die an einer psychischen Erkrankung leidet, aufgrund dieser selbst stigmatisiert, indem sie den in der Gesellschaft bestehenden Stereotypen zustimmt und sie auf sich selbst anwendet. Selbststigma kann Scham über die psychische Erkrankung auslösen, reduziert Selbstwirksamkeit und -wertgefühl der Person und erschwert Recovery (vgl. S. 89, 99). Selbststigma wird den Erkrankten oft als ‚weiteres Problem‘ angehängt, ist jedoch gerade „kein klinisches oder pathologisches Problem der Kranken“, sondern ein gesellschaftlich-strukturelles Problem, das eng mit öffentlichem Stigma verbunden ist und alle angeht (S. 72). 

Was ist die Lieblingsstelle von Blaupause? 

Natürlich die, an der wir genannt werden😉 – Nein, Spaß beiseite. Es ist eine ganz unscheinbare Stelle, die jedoch die Gedankenspirale und stete Abwägung von Gesundheitsberufler*innen mit psychischer Erkrankung auf den Kopf trifft; nämlich die Frage nach Geheimhaltung oder Offenlegung der psychischen Erkrankung: „Studien zeigen, dass ein stigmatisiertes Merkmal, das verborgen werden kann, Betroffenen oft besondere Schwierigkeiten bereitet. Denn diese Menschen stehen fortlaufend vor komplexen Entscheidungen, ob und wie sie anderen gegenüber von sich und ihrem stigmatisierten Merkmal erzählen sollen. Geheimhaltung kann vor Diskriminierung schützen: Wenn andere mein Stigma nicht kennen, können sie mich auch nicht diskriminieren. Offenlegung bringt immer das Risiko, etikettiert und diskriminiert zu werden. Andererseits kann Geheimhaltung etwa zu sozialer Isolation führen und soziale Unterstützung erschweren. Und Offenlegung kann Hilfesuche erleichtern, soziale Kontakte fördern und das Gefühl eigener Authentizität steigern: Wenn jemand anderen Menschen offen von sich erzählen kann, kann er sein und sprechen, wie er ist und wie er möchte.“ (S. 76f.) – Ganz besonders gefällt uns dabei, dass Nicolas Rüsch an mehreren Stellen betont, dass die Offenlegung der psychischen Erkrankung wohl überlegt und abgewogen sowie geplant werden muss. 

Alle Seitenangaben beziehen sich auf Rüsch, Nicolas (2021): Das Stigma psychischer Erkrankung. Strategien gegen Ausgrenzung und Diskriminierung. München: Elsevier.

Transparenzhinweis: Blaupause hat von dem Autor ein Freiexemplar erhalten.

 

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